Mit dem Canadian von Toronto nach Vancouver – eine Reise von drei Tagen und vier Nächten, deren Luxus im Zwang zum Nichtstun besteht.
Fast 4500 Kilometer in drei Tagen und vier Nächten, und zwar ohne Handynetz oder Internetverbindung. Da muss man abschalten, Funkstille aushalten können. Der Anfang ist noch ganz leicht: Abfahrt um 22 Uhr ab Toronto, Union Station. Einen ganzen Tag Zeit also, um die dringendsten Mails zu erledigen und Bücher oder Zeitschriften herunterzuladen. Drei Tage und vier Nächte, das dauert.
Beim Begrüssungsschampus – na ja, was Sprudelndes, jedenfalls –macht uns Denis, unser Host im sogenannten Action Car 1, mit den Eigenheiten dieser Zugsreise bekannt. Für die Mahlzeiten, die in der Sleeper-plus-Klasse alle im Preis inbegriffen sind, muss man sich jeden Tag neu für eine Zeit entscheiden, einzig Frühstück gibt’s jederzeit, sofern es Platz hat. Das erste Lunch-Sitting ist um 11 Uhr, das zweite zirka um 12.30 und das dritte um 14 Uhr. Abendessen beginnt dementsprechend um 17 Uhr. Als ich eincheckte, gabs für den ersten Tag nur noch Platz im dritten Sitting. Ist mir sehr recht.
Denis macht inzwischen den Entengang vor, der sich im Zug empfiehlt, wenn man nicht mit blaugestossenen Ellbogen oder gestauchten Handgelenken ankommen will. Die Gänge sind schmal, der Zug schaukelt und schüttelt, doch wer zum Parkwagen am Schluss des Zuges will, muss da durch, im Extremfall 19 Waggons lang. 20 Wagen in der Sleeper-plus-Klasse führt unser Zug auf dem Abschnitt nach Winnipeg, dazu zwei Economy-Wagen, aber die Billigreisenden dürfen nicht weiter als bis zum ersten Speisewagen.
Davon gibt’s zwei, beide mit einem vorgelagerten Action Car, der in der einen Hälfte Tische, Zietschriften, Spiele und einen Fernseher samt DVD-Player hat und in der anderen einen zweiten Stock mit Glasdach, weshalb er auch Dome car heisst. Dort oben ist meist voll, an den Tischen hats meist Platz, wenn nicht gerade Anfang Schulferien ist. Dann besuchen viele Familien ihre im ganzen Riesenland verstreuten Verwandten und drücken das Durchschnittsalter im Canadian auf unter 50.
Wer für eine viertägige Reise mehr bezahlt als für einen vierstündigen Flug, hat Zeit. Viele der kanadischen Passagiere sind denn auch Rentner. Und wenige reisen individuell: Die Passagierverkehr-Sparte der Bahngesellschaft Canadian National, ohnehin nicht profitabel, würde ohne Reisegruppen kaum überleben. Gleich zwei britische Gruppen sind in diesem Zug, sie sind nach Toronto geflogen, haben die Niagarafälle absolviert und werden ein oder zwei Nächte im Rocky-Mountains-Dorf Jasper bleiben, bevor sie nach Vancouver weiterreisen und von dort nach England zurückfliegen.
Im unteren Stock des Park Cars, der als Barwagen eingerichtet ist, sieht man die Pauschalreisenden selten, denn Alkoholika ist das einzige, wofür man im Zug Bares braucht, alles andere ist inbegriffen. Dort, wo in Agatha-Christie-Verfilmungen Monsieur Poirot die Reisegesellschaft seziert und den Mörder überführt, versammeln sich zur Apero-Zeit und nach dem Nachtessen vorwiegend die Einzelreisenden und die individuell reisenden Paare. Auch der Park Car –jeder ist nach einem kanadischen Nationalpark benannt, in unserem Fall nach Banff National Park in den Rockies– hat einen oberen Stock mit Glasdach, aber vor allem hat er eine Tür nach hinten raus, die natürlich verschlossen ist. Aber toll, um den Schienen zuzusehen, wie sie sich im Nirgendwo verlieren.
Und Nirgendwo ist meist auf dieser Reise. Die sicher sehr schöne Strecke entlang des Ontariosees liegt leider im Dunkeln, nach dem Aufwachen am Morgen zieht eine Landschaft vorbei, die exakt dem entspricht, was man sich unter dem Kanada der Holzfäller vorstellt: Wald, soweit das Auge reicht, Seen und Flüsse, alle paar Stunden mal eine kleine Siedlung.
Die Orte entlang der Zugstrecke verdanken ihre Existenz mehrheitlich eben dieser Strecke. Es sind sogenannte Railway Towns, entstanden, als die Eisenbahn das riesige Land zu erschliessen begann im vorletzten Jahrhundert. Manche haben überlebt als Service-Stützpunkte der Eisenbahn, andere wurden zu Holzverarbeitungszentren, einige zu Geisterstädten, weil der Zug dort nie hielt oder die Schienen letztlich doch woanders gelegt wurden.
Die eine der beiden Eisenbahngesellschaften, die einen Weg über die Rockies fanden und die Erschliessung wirtschaftlich überlebten, legte ihre Gleise entlang der Grenze zu den USA durch die Getreidekammer Kanadas, die andere verband in einem hohen Bogen die Bergbaustädte in Manitoba mit den Märkten in Vancouver und Toronto. Diese Strecke ist heute die einzige, die noch für den Passagierverkehr genutzt wird, doch auch sie gehört einer Gesellschaft, die ihr Geld mit dem Güterverkehr macht. Das heisst, dass Güterzüge immer und jederzeit Vortritt haben.
Zum Beispiel jetzt. Seit einigen Minuten stehen wir, und soeben kam die Durchsage, dass wir mindestens 20 Minuten warten würden. Die Strecke ist mehrheitlich eingleisig, Ausweichgleise gibt’s in weiten Abständen. Der Fahrplan wird denn auch bei der Abfahrt in Toronto letztmals eingehalten. Nach etwa 30 Minuten ruckt der Zug wieder an, und dieses Rucken wird mich einige Male aufwecken in dieser ersten Nacht an Bord.
Die Raucher an Bord hoffen beim ersten Güterzughalt noch auf eine schnelle Zigarette, doch aussteigen darf auf offener Strecke und in stockdunkler Nacht niemand. Denis bietet einen Weckdienst an für den nächsten Stopp, der das Aussteigen erlaubt. Er ist vorgesehen für 3.40 Uhr, niemand will geweckt werden. Die Handy- und Internet-Junkies haben noch keine Entzugserscheinungen, wir sind erst ein paar Stunden von Toronto und der Zivilisation entfernt.
Das Kajütenbett in den Zweierkabinen ist schmal, aber bequem, ein Waschbecken und eine abgetrennte Toilette in der Kabine bieten Privatsphäre, zum Duschen muss man in das Duschabteil am Ende des Wagens. Auch das ist winzig, aber zweckmässig, der Wasserstrahl überraschend stark, das Wasser heiss. Als ich aufwachte, standen wir irgendwo im Nirgendwo, auf dem Weg in den Speisewagen schüttelte der Zug bereits wieder. Gegen elf Uhr, also über 12 Stunden nach der Abfahrt in Toronto, der erste reguläre Stopp, in Wattford, einer der Railway Towns. Raucher bekommen endlich einen Nikotinschub, der Koch versucht am Handy einen Ersatz für die Küchenhilfe aufzutreiben, die krank wurde, und Smartphones und Tablets sind in regem Gebrauch. Der Stopp ist der letzte reguläre bis Winnipeg am nächsten Morgen. Das Aus- und Zusteigen ist an diversen Punkten zwischen den grossen Stationen möglich, wobei man das anmelden muss, bevor der Zug die letzte reguläre Station verlassen hat – jeder Halt auf einer einspurigen Strecke ist ein logistisches Problem.
Bis es dunkel wird, ziehen Nadelbäume an uns vorbei, Seen, Flüsse, ab und zu ein paar Häuser. Anfangs scheint der Blick aus dem Fenster Sinn und Zweck dieser Reise zu sein, jede andere Tätigkeit ein Verrat. Bis einem dämmert, dass diese Zugfahrt keinen Zweck erfüllen muss ausser dem, den man ihr gibt. Beispielsweise, endlich mal ungestört stundenlang lesen zu können. Oder Denis zuzuhören, der etwas über die Geschichte Kanadas erzählt, ein paar Teilchen fürs Puzzle zu finden, das angefangen auf einem der Tische im Action Car liegt, an der Weindegustation teilzunehmen, die mangels Weinangebot höchstens eingefleischte Biertrinker zu beeindrucken vermag.
Zwischen den Wäldern Ontarios und den Rockies liegt die Prärie: Hunderte Kilometer Grassteppe, ab und zu ein Bergbau-Städtchen, dann wieder Grasland mit unendlichem Himmel darüber. Erst als wir uns am dritten Tag Jasper nähern, mit rund dreistündiger Verspätung, wird die Szenerie spannender. Der Anstieg zu den Rocky Mountains führt vorbei an spektakulären Wasserfällen und über hohe Viadukte, die Kameras sind in Dauergebrauch. Und nach Jasper, wo die reguläre Abfahtrszeit kaum je eingehalten wird und deshalb schneller Nacht wird, als man aus aussichtstechnischen Gründen hoffen würde, ist die Reise bald vorbei. Eine letzte Nacht im Zug, ein letzter Schlummertrunk im Park Car, der in angeregter, zufällig entstandener Runde ausgedehnter wird als erwartet und die Wanderung zurück ins Abteil noch etwas schwankender macht als sonst.
Die zufälligen Begegnungen machen den Reiz dieser Zugsreise aus. Ich begegne Zugfans, die jede berühmte Strecke abfahren, vier Indern im besten Alter , die sich einmal im Jahr in Begleitung ihrer Frauen für eine Reise treffen, um den gemeinsamen College-Abschluss in Mumbai zu feiern. Der Kleinkindererzieherin aus Edmonton, die einst aus British Columbia wegzog, um näher bei ihren Töchtern zu sein, die inzwischen aber wieder zurück nach BC gezogen sind. Normalerweise fliege sie nach Vancouver, aber einmal wollte sie den Zugtrip machen. Dem Paar aus Toronto, das zufällig ein Inserat für die Halbpreisaktion von Canadian National sah und die Gelegenheit ergriff, der Amerikanerin, die nach drei Monaten bei einer Freundin in Iowa keine Lust auf eine schnelle Heimreise hatte.
Ich begegnete auch den Teilnehmern der britischen Reisegruppe, die sich auf dem Trip langweilten, den Reisenden, die für die drei Stunden Verspätung in Jasper kein Verständnis aufbringen konnten, und jenen, die 20 Dollar für eine halbe Flasche Wein im Speisewagen überrissen fanden.
Aber ich traf niemanden, der unter Handy- und Internetentzug gelitten hätte. Eine Generation anzgehören, die geniessen kann, ohne umgehend zu liken, hat auch Vorteile.
Vielen Dank für diesen spannenden Reisebericht! Macht Lust, diese Reise selber einmal anzutreten.
Äusserst interessant unter anderem auch deine Schlussfolgerung: Alle Mitreisenden haben die vier Tage ohne Handy- oder Internetzugang prima überstanden 😉
Ich freue mich auf deine weiteren Posts!
Liebe Su, danke für deinen Kommentar. Ich würde die Reise nie am Stück machen, sondern mindestens einmal unterbrechen. Ein paar Tage Toronto, ein paar Tage Jasper und ein paar Tage Vancouver – Traumferien.
Liebe Bea, vielen Dank für deine zusätzlichen Infos zu deiner Reise. Unterbrechen klingt super. Ich freue mich speziell auf einen Reisebericht zu ‘ein paar Tage in Vancouver’.
Herzli Su