Die Kanalinseln Jersey und Guernsey sind Juwelen der englischen Krone – und gehören nicht zu Grossbritannien. Sie liegen so nah an Frankreich, dass weder ihr Wetter noch ihre Küche typisch englisch sind.
Am Flughafen von Jersey stehen vor der Passkontrolle Papiertaschen mit Kartoffeln. Kartoffeln als Reisemitbringsel? Klar: Es sind Jersey Royals. Sie werden nur hier angebaut und allenfalls nach England exportiert, wo sie im Frühling ebenso sehnsüchtig erwartet werden wie bei uns der erste einheimische Spargel. Es sind Frühkartoffeln mit sehr dünner Schale, und sie schmecken intensiver als andere Sorten. In Salzwasser mit Minze kochen und nur mit Butter servieren, sagen die Einheimischen.
Es ist nur eine der vielen Kuriositäten auf den Kanalinseln, wo man Englisch spricht, die Strassen aber französische Namen tragen. Wo das Jersey-Pfund denselben Wert hat wie das britische Pfund – ausserhalb der kleinen Insel aber wertlos ist. Und wo die Jersey Black Butter nichts mit Butter zu tun hat. Sie besteht aus Äpfeln, Cider und Gewürzen und lässt sich – immerhin – aufs Brot streichen. Angeboten wird sie pur und in Mischungen, etwa mit Tomato Relish oder Apfel-Chutney, sowie verarbeitet in Schokolade oder Biscuits. Dass die würzig-süsse Spezialität Butter heisst, ist auf einen Übersetzungsfehler zurückzuführen, als das normannische Jersey Besitz der englischen Krone, aber nicht Teil von England wurde.
Die französische Vergangenheit der Kanalinseln ist auch sonst noch präsent, vor allem in der Küche. Sie geht weit über Fish & Chips hinaus, wobei Fisch natürlich eine Hauptrolle spielt. Die grössten Austernbänke der Britischen Inseln liegen vor Jersey, und bei Ebbe kann man zu ihnen wandern. Hier steigt der Pegel bei Flut um bis zu 12 Meter, was auch heisst, dass sich die Strände bei Ebbe weit ins Meer hinaus erstrecken. Dann kann der Befestigungsturm Seymour Tower, der gut zwei Kilometer vor der Royal Bay of Grouville liegt, (fast) trockenen Fusses erreicht werden. Etwa auf halber Strecke steht ein Rettungsturm, der im vergangenen Jahr 20-mal genutzt werden musste, weil Wattwanderer von
der Flut eingeholt wurden. Die kommt erst langsam, aber ab der dritten Stunde nach dem Niedrigwasser mit rund fünf Zentimetern pro Minute. Wer dann nicht am Ufer oder auf dem Rettungsturm ist, ist in akuter Gefahr.
Geführte Wattwanderungen sind daher nicht nur sicherer, sondern auch spannender. Denn was Derek Hairon, Geschäftsführer von Jersey Walk Adventures, über die Flora und Fauna auf dem Meeresboden zu erzählen hat, ist faszinierend. Zum Beispiel, dass sämtliches Grünzeug dort essbar ist. Dass Wakame langsam die einheimischen Algen verdrängen. Dass Algen als Dünger auf die Kartoffelfelder ausgebracht werden. So kommt es, dass sich die Bauern genauso bei Mutter Natur bedienen wie andere Einheimische, die sich bei Ebbe ihre Mahlzeiten zusammensuchen. «Es ist ja schon lustig», sagt Derek, «wie das, was wir seit Jahrhunderten machen, in letzter Zeit unter dem Begriff ‹Foraging› (Nahrungsmittel sammeln) total Mode wurde, weil ein Fernsehkoch davon schwärmte.» Auf dem Meeresboden finden sich Krabben und Muscheln, manchmal sogar Hummer, für den man allerdings ziemlich weit hinaus muss. Auch die Algen sollte man nicht unbedingt in Ufernähe ernten. Und bei den Austernbänken findet man ab und zu ein Exemplar, das aus dem Sack fiel, in dem es gewachsen ist.
Nach der Wanderung gibt es Austern im Seymour Inn, zwei roh und eine gegrillt. Derek sagt uns, wie wir sie essen sollen: «Man kaut sie. Schlürfen tun sie nur Leute, die sie nicht mögen, aber damit angeben wollen, dass sie sich Austern leisten können.» Das können sich auf den Kanalinseln viele: Jersey und das kleinere Guernsey wurden als Steuerparadies reich, die Finanzindustrie ist trotz Regulierungsdruck noch immer der grösste Wirtschaftszweig. Das schlägt sich in den Preisen nieder, aber nicht im Erscheinungsbild: In den Hauptstädten St. Helier und St. Peter Port gibt es kein City-Ambiente, dafür überall viel Grün.
Auch von der Hektik anderer Finanzmetropolen ist nichts zu spüren. Trotz regem Verkehr und häufig fehlenden Trottoirs scheinen Fussgänger und Velofahrer sicher zu sein – wie die Fahrer von Mietautos: Die sind mit einem riesigen H auf der Motorhaube gekennzeichnet und hätten immer Vortritt, sagt unsere Reiseleiterin. Weil es so weniger Stress gebe.
Den gilt es zu vermeiden. Darum gibt es auf den kleinen Inseln kaum Fast Food, dafür drei Sterneköche. Nur der Inselwein kann mit dem allgemeinen kulinarischen Niveau nicht ganz mithalten. Aber dafür ist ja Frankreich nur ein paar Kilometer entfernt.